Was ist ein Wert? – Interview mit dem fvw-Magazin

Es kommt eher selten vor, dass ein Philosoph von der Touristikbranche befragt wird – ist so aber für das Jubiläumsheft zum 50. Jahrgang des fvw-Magazins geschehen. Wir wollen es der breiten Öffentlichkeit nicht vorenthalten. Die Fragen stellte Rabea Spiralke.

Woher kommt der Wertebegriff?

Die Wertbegrifflichkeit ist in der Ökonomie angesiedelt, es geht letztlich immer darum, eine ökonomische Entscheidung zu treffen. Deswegen sind Wertdebatten immer auch ökonomische Debatten. Selbst moralische Werte wie Menschenrechte sind Tauschwerte, die auf dem Markt gehandelt werden. Wir benutzen den Begriff Werte, tun uns aber schwer, diesen festzunageln. Deswegen wird der Wert immer ein mobiler Begriff bleiben, der mal mit diesen oder mal mit jenen Konnotationen angefüllt wird.

Lässt sich definieren, nach welchen Werten unsere Gesellschaft lebt?

Nicht so richtig. Man muss sich angucken, wie die Leute tatsächlich handeln. Da muss man zwischen einer medialen Debatte, die wir haben, unterscheiden und dem tatsächlichen Verhalten. Ein guter Indikator sind Wahlen. Was funktioniert hier und was nicht? Das Thema Sicherheit spielt eine riesige Rolle, Gerechtigkeit hingegen überhaupt keine. Das ist interessant, weil wir ja gar nicht bedroht sind. Die Bedrohungen, die die Leute fühlen, sind unsichtbar. Das sind nur Möglichkeiten. Man hat ein diffuses Gefühl von „Es könnte etwas passieren“ und wünscht sich deswegen mehr Sicherheit.

Was sagt es uns, dass ein Wert wie Gerechtigkeit nicht relevant ist?

Ich denke, dass inzwischen ein Sprung stattgefunden hat: Werte sind selbst zur Ware geworden. Wir haben sozusagen einen Markt der Werte. Auf diesem Markt werden Werte gehandelt, sie erzielen eine gewisse Rendite. Werte sind ein geschätztes Konsumgut, sie funktionieren am Markt. Es macht sich gut, bestimmte Werte für sich zu reklamieren, z.B. ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein. Gerechtigkeit lässt sich dagegen schlecht konsumieren.

Wie verändern sich Wertevorstellungen?

Man muss sich das so vorstellen: Unser Wertesystem besteht aus drei Komponenten, die ein Dreieck bilden: der Kognition, der Emotionalität und dem Verhalten. Wenn ich an einer Spitze des Dreiecks etwas verändere, dann verändern sich die anderen beiden auch. Ein Beispiel: Ich fliege mit einem Billigflieger in den Urlaub, obwohl ich Vorbehalte habe. Ich habe dann aber, entgegen meiner Annahme, ein angenehmes Erlebnis. Das verändert die kognitive Komponente. Wenn das mehrmals passiert, verändert sich die ganze Wahrnehmung. Je mehr ich so etwas anbiete, und je mehr Leute so etwas (zufällig) nachfragen, desto mehr verändert sich unser Wertesystem. Die Warenproduzenten produzieren also nicht nur echte Waren, sondern auch ein echtes Wertebewusstsein.

Das Überangebot an Waren ist dabei vermutlich nicht gerade hilfreich?

Nein. Es gibt immer mehr von allem. Jetzt kommt noch die ganze digitale Simulation dazu. Bilder in sozialen Medien erweitern die Palette dessen, was ich konsumieren kann, nochmal ins Unermessliche. Wir kommen aus der Nummer nicht raus, weil wir eine Entwicklung haben, bei der wir eigentlich nicht hinterherkommen und bei der alles immer anonymer wird.

In die Zukunft gerichtet, klingt das eher beängstigend. Wie wird sich die Gesellschaft in den nächsten 10 bis 15 Jahren verändern?

Da sehe ich drei Szenarien: Das erste wäre, dass im Wesentlichen nichts passiert. Die Digitalisierung wird weiter voranschreiten und wir werden sie immer weniger verstehen. Parallel dazu wird es immer mal wieder Gegenentwürfe geben. Nehmen wir als Beispiel den Heiratsmarkt mit der Rückkehr traditioneller Werte. Junge Leute heiraten und glauben wirklich, dass es bis ans Lebensende hält. Das ist eine Reaktion auf dieses immer Schnellere, Oberflächlichere und Anonymere. Das ist interessant, wenn man sich anschaut, wie geheiratet wird: Alles ist total inszeniert, aufgebauscht und auf Social Media-Kanälen wie Facebook oder Instagram perfekt dargestellt. Die Hochzeit selber ist also eine Ware, die verkauft wird. Das zweite Szenario wäre eine Art „digitales Fukushima“, analog zur Atomkraft. Da hat man auch lange geglaubt, dass es immer so weitergehen wird und Atomkraft alle Probleme lösen kann. Das digitale Fukushima wäre eine Art Anti-Digitalisierungsbewegung. Vielleicht sagt man 2030: „Die Digitalisierung ist gefährlich und birgt zu viele Risiken, da steigen wir lieber aus“.

Und was wäre das dritte Szenario?

Hier wird die Digitalisierung zur natürlichen Ressource, weil es ja nicht viel kostet. Es ist einfach da. Billiges Fliegen etwa wird als Naturrecht wahrgenommen. Die Leute hinterfragen nicht mehr, wie das zustande kommt. Diese Variante hat ein bisschen was von Science Fiction. Unsere natürliche Umwelt besteht nicht mehr nur aus Natur, sondern auch aus Technik. Technik steht nicht mehr im Gegensatz zur Natur, sondern wird ein Stück davon.

Welches Szenario könnte am ehesten Realität werden?

Meiner Meinung nach könnte es eine Mischung aus dem ersten und dritten werden. Man sieht schon jetzt, dass wir die technische Infrastruktur wie eine natürliche Ressource behandeln. Das wird sich weiter fortsetzen. Es wird auch weiterhin „Zurück zu“-Bewegungen geben. Zurück zur Natur, zurück zum Handwerk. Die Menschen sind ihrer Bürojobs überdrüssig und fliehen in eine andere Welt. Das ist aber nur ein simulierter Ausstieg.

Welche Rolle wird das Reisen in dieser neuen Realität spielen?

Die Reise wird eine Fortsetzung des Alltags sein. Dort werden Aspekte wie Wellness, Gesundheit, Sicherheit und Gemeinschaft im Vordergrund stehen. Parallel dazu wird es eine Gegenbewegung mit inszenierten Abenteuerurlauben geben – also etwa diese typischen Jochen-Schweizer-Angebote mit Rennwagen fahren oder Fallschirm springen. Im Endeffekt kann man das eine Wellness- und Anti-Wellness-Bewegung nennen. Das ist natürlich sehr pauschalisierend. Auch in diesem Szenario wird es Menschen geben, die echte Abenteuer wagen und Individualreisen machen. Aber in dem Wertesystem kann eine Nische wie Individualreisen nie zum Produkt werden.