Vom Wesen der (fast) freiwilligen Einschränkung
gesendet am 17. Juli 2014 auf Deutschlandradio Kultur
Willst du dir den Tod holen?, fragte meine Großmutter früher, wenn ich als Kind im Winter mit nassen Haaren aus dem Haus ging. So viel Unvernunft, das schien klar, konnte man nur mit einer Todesdrohung beikommen. Vor allem, wenn der schlimme Schnupfen dann einfach ausblieb.
Das Argument hat Tradition. Im 17. Jahrhundert stellte der Mathematiker Blaise Pascal einen berühmt gewordenen Gedanken auf: Es sei besser, an Gott zu glauben, als es nicht zu tun. Weil im Falle der Existenz Gottes dem Gläubigen das Himmelreich, dem Ungläubigen aber die Hölle winkte, während im Falle der Nicht-Existenz einfach nichts geschähe. Vor diesem Hintergrund der Risikostatistik, das müssten auch die hartnäckigsten Atheisten einsehen, sei es völlig unvernünftig, nicht zu glauben.
Vernünftig und unvernünftig, gesund und ungesund
Inzwischen ist Gott tot. An seine Stelle ist für viele die Gesundheit getreten. Die Unterteilung in Gläubige und Ungläubige ist geblieben, und damit die Rechtfertigung des Glaubens im Namen der Vernunft: Was gesund ist, so der erste Glaubenssatz, ist auch vernünftig. Und was ungesund ist, Rauchen, Radfahren ohne Helm, Bier zu fettem Essen, ist folglich unvernünftig.
Selbst diejenigen, die die Freiheit des Einzelnen gegen die Gesundheitsapostel verteidigen, tun dies nicht selten mit dem Verweis auf die Freiheit zur Unvernunft – und lassen die ihnen damit attestierte Unmündigkeit unwidersprochen. Denn das ist es, was die ganze Debatte um sogenannte Lebensrisiken so ärgerlich macht: Wer die Vernunft für sich reklamiert und sie dem anderen abspricht, schließt ihn damit vom Diskurs aus. Wenn Eltern rufen: „Jetzt sei doch vernünftig!“, dann appellieren sie gerade nicht an freie Selbstbestimmung und Mündigkeit, sondern fordern Gehorsam ein. Paternalismus und Besserwisserei gehen gerne Hand in Hand.
Der Vernunftbegriff, auf den wir seit Immanuel Kant unsere universelle Moral gründen, muss inhaltlich unbestimmt bleiben. Er kann nur einen formalen Rahmen vorgeben, wie er sich zum Beispiel im Kategorischen Imperativ ausdrückt. Wer die Vernunft auf bestimmte Inhalte beschränkt, der instrumentalisiert sie, beraubt sie ihres universellen Wesens. Man mag es unvernünftig finden, ungesund zu leben, aber dieses Urteil reicht dann nicht über einen selbst hinaus.
Missbrauch des Vernunftbegriffs
Für andere kann Vernunft durchaus bedeuten, sich bewusst Gefahren auszusetzen, um sich von der Last der eigenen Ängstlichkeit zu befreien. Wer einem Menschen indes die Vernunft abspricht, nur weil er nicht nach den eigenen Glaubenssätzen vom Gott der Gesundheit handelt, der spricht diesem Menschen insgesamt die Autonomie ab und degradiert ihn zu einem Mündel.
Kaum jemand scheint Notiz davon zu nehmen, wenn ein ums andere Mal der Vernunftbegriff missbraucht wird, um die Freiheit einzuschränken. Vielleicht kein Wunder in einem Land, das seine Schüler weniger die großen Denker und ihre Gedanken lehrt, als sie mit allerlei Optimierungen zu drangsalieren. So züchten wir uns eine Sanatoriumsgesellschaft heran, die fettarm und dauerüberwacht ihrem Demenzzustand entgegendämmert.
Auf den Vernunftbegriff hatte Kant einst den Freiheitsbegriff gegründet. Diese Freiheit ist für eine demokratische, pluralistische Gesellschaft fundamental. Jede Einschränkung der Freiheit muss also gegen die Vernunft begründet werden, nicht mit ihr. Deshalb: Helm ab zum Nachdenken.