Gesendet im Deutschlandradio Kultur am 17.10.2011
Die Politik in Berlin stand in den vergangenen Wochen erst einem alten, dann einem neuen Machtphänomen gegenüber, und beide forderten das Selbstverständnis der parlamentarischen Demokratie gleichermaßen heraus. Die Rede ist von Papst Benedikt XVI und der Piratenpartei.
Als der Papst vor dem Deutschen Bundestag sprach, wünschte er den Abgeordneten ein „hörendes Herz“ wie dem biblischen König Salomon. Die Botschaft dahinter: Auch in der Politik gibt es Dinge, die nicht auf der Basis transparenter demokratischer Prozesse entschieden werden können – dafür bräuchten Politiker lediglich ein offenes Ohr. Vielmehr bedürften gerade die großen Themen der besonderen spirituellen Eingebung. Der Papst machte damit den Politiker zum Priester, der eine unumstößliche Wahrheit verkündet, die nur er als Eingeweihter schauen kann. Und das Wahlvolk wird zur gläubigen Gemeinde.
Paradigmatisch für die Wandlung des Politikers zum Priester ist das Verhalten von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble in den vergangenen und gegenwärtigen Finanzkrisen. Die Kanzlerin kennzeichnete ihre Millardenentscheidungen schlicht als „alternativlos“; das gleicht mehr einem kirchlichen Dogma als dem Ergebnis demokratischer Willensbildung. Und Schäubles hartnäckiges Verschweigen und Verschleiern seiner Position in Sachen Euro-Rettungsfonds erinnert mehr an den Umgang des Klerus mit weltlicher Kritik als an transparente und um Aufklärung bemühte Politik. Ebenso wie die katholischen Laien werden inzwischen die Nicht-Eingeweihten, sprich: die Bürger konsequent aus der Großen Politik ausgegrenzt. Ihre Rolle beschränkt sich darauf, die Verkündigungen der Mächtigen duldsam entgegenzunehmen und ansonsten daran zu glauben, dass alles sich zum Guten wende.
Es mag sein, dass sich die globalen Herausforderungen in ihrer Größe und Komplexität nur von einem neuen Priesterkönigtum bewältigen lassen – allerdings: Wer wollte das beurteilen? Damit kommen wir zur Piratenpartei, die sich den Kampf gegen eben jenes politische Priesterkönigtum auf die Fahne geschrieben hat. Sie wird, möchte ich prophezeihen, das Schicksal aller Bürgerbewegungen erleiden: Auf kommunaler Ebene wird sie vom Politikbetrieb absorbiert werden und ihren Piratenstatus schnell verlieren. Denn hier hat inzwischen jeder erkannt, dass bei Tiefbahnhöfen und anderen kleinen Dingen Transparenz und Bürgerbeteiligung das Mittel der Wahl sind. Auf der großen Bühne werden sie einen charismatischen Führer, einen modernen Captain Blackbeard hervorbringen, der bald darauf von der meuternden Basis gelyncht werden wird, weil er den Widerspruch zwischen Basisdemokratie und Großer Politik nicht aufzulösen vermag. Der Pirat als Gegenspieler zur etablierten Macht ist eine romantische Figur, aber gerade als ihr Gegenspieler macht er sich mit ihr gemein, weil er nur durch sie existiert.
Piraterie ist für sich kein beständiges Politikmodell. Die Cyber-Piraten setzen auf die sogenannte Schwarmintelligenz des Internets. Aus Millionen von unreflektierten Einzelmeinungen würde sich, der Technik sei Dank, ganz natürlich ein gemeinsamer politischer Wille formieren. Politik bedeutet aber die Regierung des Menschen durch den Menschen, sie ist eine Kulturleistung, kein Naturphänomen. Aufgabe der Politik ist es, Verteilungskonflikte einvernehmlich zu lösen. Freibeuterei kann dies schon dem Namen nach nicht leisten. Und wer gar meint, die Algorithmen des Internets könnten das Regieren ersetzen, degradiert das Land zu einem Insektenstaat.
Politik lässt sich ebenso wenig durch Religion ersetzen, sie ist das mühsame Geschäft der Ebene, nicht die Verkündigung vom Berg des Propheten. Daran müssen einige der dauerregierenden Priesterkönige erinnert werden.
Die säkulare parlamentarische Demokratie mag ihre Schwächen haben, sie bleibt am Ende für die politische Selbstbestimmtheit jedes Einzelnen ohne Alternative. Sie sollte sich nicht von Kirchenschiffen oder Piratenkähnen kapern lassen.