Erinnern an die erste Liebe

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Nichts ist so wie die erste große Liebe. Alle Lieben danach stehen im Schatten dieser ersten. Unser erotisches erinnern funktioniert also anders als unser übriges Gedächtnis. Dieses Phänomen untersuche ich im 3. Kapitel von vögeln – eine Philosophie vom Sex, zunächst poetisch, dann philosophisch. Hier ein Auszug:

3 Sabin

Die Stadt mit Namen Sabin war die erste gewesen, in die Abraham vordem gekommen war. Auf keiner Karte verzeichnet, zeigte sie sich unvermutet. Sie bedurfte nicht der Eroberung, sie war nicht zu unterwerfen, sie war eigenmütig. Er hatte sie nicht erwartet. Sie war damals noch ein halbes Kind, versteckte sich hinter einem Gebüsch, zog sich eine Decke über den Kopf, zog sich aus, zündete Kerzen für die Geister der Toten an. Sie trug die Haare kurz wie ein Junge, sie war stark wie ein Junge. Schön wie ein Junge. Ihre Möse bedeckte ein weicher brauner Flaum. Angora-Fell. Ihr Nabel war tief. Ihre Brüste groß und weich. Die Stadt Sabin war eine enge Koje, ein Iglu, ein Lager aus Kissen und Decken. Weißbrot mit Butter und Marmelade. Rote Marmelade. Kakao mit Kaffee gemischt. Komm, wir gehen noch einmal ins Bett. Nimm ein bisschen Spucke. Sie spielte Geige, halb im Ernst. Sabin, die treibende Stadt, die Flusspriesterin. Nachts setzte sie schwimmende Lichter aufs Wasser. Sie war eine Straßenarbeiterin: Liebe für die Verlorenen. Und noch mehr. Sie sammelte sie ein. Sie schlief mit ihnen. Ihr Bauch verdaute das Sperma.

Als sie später Abrahams Namen hörte, entfuhr ihr ein Lachen. Ein Lachen, das ein schnelles Leugnen war. Etwas berührt uns und wir können es nicht abwehren, dann lachen wir. Die Unwissenden nennen das dann ein falsches Lachen, aber sie verstehen den Menschen nicht, das Lachen hat immer recht. Abraham denkt an mich?, sagte Sabin. Ich bin ihm ein Ort der Erinnerung, ein Erinnerungsort, wer hätte das gedacht. Vielleicht habe ich deshalb gelacht. Sie suchte nach der Bedeutung des Wortes Erinnerung. Etwas ist außen, draußen; dann holt man es wieder herein, nach innen. Ein Ort wohnt in einem Menschen, für viele Jahre, und er weiß es nicht. Dann erkennt er es. Manche sagen, das Erkennen sei überhaupt ein Erinnern. Ich glaube, sagte sie zu sich, er hatte Angst vor mir und vielmehr noch vor sich selbst, aber er war blind und hat weder mich erkannt noch sich selbst. Sie hörte, dass er umherzog. Er kann keinen Ort für sich finden, sagte sie. Auch bei ihr war er nicht lange. Es muss so etwas wie ein Ringen gewesen sein, zwischen ihm und seinem Dämon. Er ahnte vielleicht, dass er blind war und wollte das Sehen lernen. Ich war wohl traurig, als er ging, aber ich bin ihm nicht böse.

Die Stadt Sabin verbarg ihren Körper in weiten Gewändern. Sie war schön, obwohl sie kein Aufheben darum machte. Etwas ist anders, sagte sie noch.

Was heißt erinnern?

Alles erinnern ist mit vergangenen Lieben verbunden. Weiß ich noch, wie du hießest? Nein, aber ich würde dich unter Tausenden erkennen. An deinem Geruch? Vielleicht. An der Liebe, die einmal war. Wo einmal Liebe war, kann nie mehr Nicht-Liebe sein. Wo man nicht vergessen kann, ist erinnern. Erinnern, das heißt leben mit dem Unvergesslichen. Wo wir nicht erinnern wollen, halten wir fest, schreiben auf, meißeln in Stein. Der Liebe ein Denkmal zu setzen, ist schon Verrat. Ich habe deinen Namen vergessen. Das ist gut so. Der Name ist ein Geheimnis. Er wird erst zusammen mit all dem, was er nicht ist, zu dem, was er bezeichnet. Der Name ist nichts. Der Name ist etwas für die Geschichtsbücher.

Man verliebt sich nicht in einen Namen. Man verliebt sich vielleicht in ein Gesicht (das vor allem); man verliebt sich vielleicht in einen Körper, Teile eines Körpers: Schenkel, Arschbacken. Aber das sind nur Äußerlichkeiten, kurze Reize, sie währen nicht länger als einen Augenblick. Worein verliebt man sich? Man verliebt sich in die Möglichkeit des geliebtwerdens.

Wir täuschen uns, wenn wir nach Namen fragen. Ist nicht der Moment der intensivste, wo wir uns beim abfahren des Zuges das erste Mal in die Augen blicken? Ich weiß deinen Namen nicht, aber ich weiß, dass ich in diesem Augenblick geliebt habe. Ich wüsste deinen Namen so gerne, weil ich das Lieben nicht aushalte.

Dort, wo der Name genannt wird, ist der erste Schritt zum Vertrag schon getan. Deswegen geben sich die Huren neue Namen, nehmen sich Namen, die nicht die ihren sind, damit der Vertrag, den der Freier mit ihnen eingeht, nur ihrem Körper gilt. Im Puff bedeuten Namen nichts, sie gelten nur für den Moment. Frag nach Chantal, niemand wird sie kennen. Der Vertrag ist der Gegenspieler des Vertrauens. Ich will eine Leistung für mein Geld. Verklagt werden kann nur, was einen Namen trägt. Wenn ich deinen Namen nenne, treten wir in einen rechtlichen Zustand ein, wir werden offiziell. Herr und Frau Soundso. Wir erwerben Rechte aneinander. Wir streiten.

Um die Geschichten zu erzählen, die niemand erlebt hat, brauchen wir die Namen. Wir tragen unsere Namen aber nicht, weil wir einmal Geschichte werden könnten. Unsere Namen und die Namen der Geschichte haben nichts miteinander zu tun. Ob ein vergangener König wirklich so oder so geheißen hat (gerufen wurde), Otto oder Karl, ist für die Historie völlig gleichgültig. Jemand, dessen Name Geschichte geworden ist, Schrift geworden ist, in Stein gemeißelt worden ist, den können wir nicht lieben und wir können ihn uns auch nicht liebend vorstellen. Und da, wo es dasselbe ist, können wir ihn uns auch nicht zeugend vorstellen. Sein Geschlecht wird abstrakt, es wird zum Stammbaum, sein zeugen löst sich in einer schlechten Metapher auf. Namen bedeuten nur dort etwas, wo man nicht liebt. Nie würde ich beim vögeln deinen Namen rufen. Die antiken Tragödiendichter wussten, warum sie keine Liebesdramen auf die Bühne brachten. Kassandra! – Oh, Agamemnon! Das Publikum hätte sich totgelacht (und tut es noch heute, wenn es ehrlich ist).

Der Name ist so etwas wie das erste Kleid, mit unseren Namen bedecken wir uns, verbergen wir unsere Nacktheit. Adam bemerkte seine Blöße, als Gott ihn bei seinem Namen rief. Der Verlust des Namens hingegen, das Nicht-beim-Namen-genanntwerden wirft uns dahin, wo wir keine ehrenwerten Personen mehr sind. Auf die Straße, auf den Strich, in die Bordelle, in die Pfützen. Dorthin, wo die große Liebe ist, das ganz große Verlangen, Begehren.

Während unsere sonstigen Erinnerungen, Erinnerungen an eine Reise, an ein Essen, ein Spiel, an eine Verrichtung durch neue Erfahrungen zurückgedrängt werden, überschrieben werden (wenn auch nicht gelöscht), ist jede neue Liebe die Erinnerung daran, schon einmal geliebt zu haben. Es ist die Liebe des Kindes. Das Kind liebt, wahllos zur Not, die Mutter, den Vater, jeden x-beliebigen Fremden und es, das Kind, muss nur einmal, nur für einen kurzen Moment, zurückgeliebt werden, damit ihm dies zur ewigen Erinnerung wird, zu der Gewissheit: ja, es ist möglich, geliebt zu werden – ich habe es einmal erlebt. Alles andere ist unwichtig. Bei einem Ereignis als Augenzeuge dabeigewesen zu sein – wozu? Sich Einzelheiten zu merken, sich mit einem Wissen von irgendetwas zu belasten – nichtig. In den Bibliotheken sitzen die strebsamen Mädchen, saugen das Wissen aus den Büchern in sich hinein und gebären neue Bibliotheken. Nur gevögelt werden sie nicht. Es gibt wohl kaum bedauernswertere Menschen als jene, die die Liebe zur Literatur entdeckt haben, oder – noch schlimmer: die Liebe zur Philosophie.