Vor gut drei Jahren habe ich im Deutschlandfunk Kultur den Fall des saudischen Publizisten al-Badawi kommentiert. Der Text lässt sich unverändert auf den Fall Kashoggi übertragen, weshalb ich ihn hier noch einmal veröffentliche. Zwei Ergänzungen sind vorzunehmen: 1. Es hat sich nichts verändert. 2. Es ist noch schlimmer geworden.
In der vergangenen Woche wurde das Urteil gegen den saudischen Publizisten al-Badawi bestätigt: 1.000 Stockhiebe und zehn Jahre Haft für ein paar Worte der Kritik. Wenn die irrwitzige Strafe vollzogen wird und Badawi sie überhaupt überlebt, dann als gebrochener Mann. Dabei ist dieser Fall nur die momentan sichtbarste Aktion eines Regimes, das monatlich bis zu zehn öffentliche Hinrichtungen durchführt und seine Arbeiter und Hausmädchen nicht selten wie Sklaven behandelt und missbraucht.
Klar, als Medienkonsument gewöhnt man sich schnell an alles. Aber im Falle Saudi-Arabiens scheint nicht einmal Gewöhnung nötig zu sein. Dabei ist das autokratische Königreich so anti-demokratisch und in seiner Auslegung des Islam so fundamentalistisch, dass der Nachbar Iran dagegen fast schon liberal erscheint. Trotzdem hört man aus dem Westen im Allgemeinen und aus Deutschland im Besonderen keine Worte der Kritik. Traditionell nicht. Im Gegenteil: Das archaisch-brutale Reich der Scheichs wird hofiert und mit modernsten Waffen vollgestopft.
Was sind die Gründe?
Man denkt zunächst ans Öl. Aber das gilt schon lange nicht mehr. Mit einem Importanteil von unter 5 Prozent ist saudisches Öl für Deutschland völlig unbedeutend. Umgekehrt hat man keine Probleme damit, unseren wichtigsten Energielieferanten, Russland, politisch zu isolieren und mit Sanktionen zu belegen. Im Öl-Argument steckt allenfalls noch die alte Traumatisierung durch die Ölkrise vor 40 Jahren.
Dann vielleicht die geostrategische Bedeutung Saudi Arabiens? Nun ja. Wer angesichts des Chaos im Nahen Osten ausgerechnet im Reich der Wahabiten einen Stabilitätsfaktor sieht, muss schon sehr naiv sein. Außerdem hat der Westen in den vergangenen Jahren gezeigt, wie schnell er autoritäre Regime in der Region fallen lassen kann.
Auch das oft zitierte Argument wirtschaftlicher Verflechtungen zieht nicht. Die gesamte Wirtschaftsleistung Saudi-Arabiens ist kaum größer als die der Schweiz und steht gerade einmal für 0,5 Prozent des deutschen Außenhandels. Die Scheichs aus der deutschen Wirtschaft auszuschließen, würde hier kaum jemandem den Job kosten.
Was also unterscheidet König Salman von Putin oder Ayatollah Chamenei, das uns so mit zweierlei Maß messen lässt?
Ich vermute, es ist der Glanz des märchenhaften Reichtums, der uns das Hirn vernebelt. Wir haben, bewusst oder unbewusst, immer noch Bilder vom Orient im Kopf, die wir mit der irren Hoffnung verknüpfen, etwas von diesem Reichtum möge auf uns herabfallen – auch wenn es völlig realitätsfern ist. Wir bewundern die Scheichs für ihre Yachten, Privatjets und goldenen Paläste. Im Schein der Milliarden übersehen wir jede Gräueltat.
Diese neurotische Seelenallianz des Durchschnitts mit den Superreichen reicht dabei vom Unternehmer, der im Ölprinz den Retter seiner maroden Firma erhofft, über die Händler auf Münchens Maximilianstraße, die beten, so ein Araber mit seinen zwei schwarzen Hüllenwesen im Schlepp möge auch bei ihnen mal einige Zehntausend liegen lassen, bis zu den Leserinnen einschlägiger Klatschblätter, die sich gerne ein Märchen von 1001 Nacht erzählen lassen.
Angesichts der Auspeitschungen und öffentlichen Enthauptungen in Saudi-Arabien kann man also nicht einfach mit dem Finger auf andere zeigen: auf die Politik, die Waffenhändler, die Ölkonzerne. Nein, jeder, der sich vom Glanz des märchenhaften Reichtums beeindrucken lässt, macht sich zum heimlichen Komplizen dieses finsteren Gewaltregimes. Spüren Sie, wie der Lederriemen die nackte Haut aufreißt?
Noch einige Anmerkungen, für die im Radio kein Platz mehr war:
Was die Aussicht auf unverdienten Reichtum mit den Menschen macht, haben Friedrich Dürrenmatt in seinem “Besuch der alten Dame”, Dostojewski in “Der Spieler” und Joseph Roth im “Hotel Savoy” gezeigt: Die Güllener schrecken nicht vor Mord zurück, der Spieler sehnt den Tod der Moskauer Erbtante herbei (und dreht durch, als diese, quicklebendig, ihre Hunderttausende ebenfalls im Casino verzockt), die Lodzer Bagage lungert in Erwartung des reichen Onkels aus Amerika arbeitsscheu in der Hotellobby herum (immerhin).
Diese Seelenallianz mit den Superreichen und die irrationale Hoffnung, es könnte einen selbst doch noch irgendwann der Reichtum treffen (der sich bei manchen bis zum letzten Atemzug hält), haben hierzulande bislang noch jeden Versuch einer Erhöhung von Erbschafts- und Vermögenssteuer sicher verhindert.